Suspiria
Suspiria | Deutschland/Italien | 1977
IMDb, OFDb, Schnittberichte
Die junge Ballettschülerin Suzy Banyon (Jessica Harper) reist nach Freiburg, um in der dortigen Tanzschule ihre Kenntnisse zu verbessern. Doch in der von der rauen Lehrerin Marie Tanner (Alida Valli) und der undurchsichtigen Madame Blank (Joan Bennett) geleiteten und obendrein in einem finsteren Walde liegenden Schule findet sie statt Tanz und Frohsinn nur Horror und Absurditäten. Immerhin ist die schwermütige Sandra (Stefania Casini) gewillt, etwas Licht ins umfangreiche Dunkel zu bringen.
Schon ROSSO – DIE FARBE DES TODES (1975) hatte angedeutet, welchen Weg der aufstrebende Dario Argento nach seinen frühen Giallo-Erfolgen einzuschlagen gedachte. War die TIER-TRILOGIE noch eine thematisch recht realistische Folge von Kriminalfilmen, so ließ Argento David Hemmings 1975 bereits einige verwirrende und surrealistische Situationen durchleben. Der Erfolg gab ihm Recht und bestärkte ihn in dem Vorhaben, den Gefühlen, Eindrücken und Stimmungen in seinem nächsten Film noch mehr Platz einzuräumen. Als Vorlage dafür sollten ihm und seiner Frau Daria Nicolodi (welche er bei den Dreharbeiten zum vorangegangenen Werk kennenlernte) die Werke Bekenntnisse eines englischen Opiumessers von 1821 und Suspiria de Profundis von 1845 des britischen Schriftstellers Thomas De Quincey dienen. Und auf Grundlage dieser Geschichten schufen die beiden ein Skript, welches sich klar von den Fesseln klassischer filmischer Erzählweisen löst und stattdessen danach trachtet, ein eigenständiges audiovisuelles Erlebnis darzustellen.
So lässt sich die Handlung auf sehr wenige Eckpunkte runterbrechen, ein Spannungsbogen existiert kaum. Weder entwickelt sich die Hauptfigur, noch ihre Beziehungen zu anderen Figuren. Zwar erwartet den Zuschauer am Ende eine Auflösung der Frage, wo all die skurrilen Ereignisse herrühren, aber es wäre ein großer Fehler, in diesem Fitzelchen Handlung die Qualitäten des Films zu suchen. Denn mehr als bloßes Mittel zum Zweck stellt die grobschlächtige, unlogische und letzten Endes auch vernachlässigbare Geschichte nicht dar.
Frank: Magie ist überall. Überall in der Welt.
Vielmehr bietet sie Argento den Rahmen, seine Zuschauer nach Herzenslust in optische und akustische Situationen zu werfen, welche allesamt für sich alleine eine Daseinsberechtigung haben. Bereits die Eröffnung im Flughafen ist geprägt von Surrealismus. Die dröhnenden Durchsagen, die Nahaufnahme der Türmechanik, die Reflexionen der Türen, das Fremde, das Düstere. Die Taxifahrt bringt dem Rezipienten dann die ihn erwartende Farbästhetik näher, welche in den folgenden gut 90 Minuten stets im Mittelpunkt des Geschehens stehen wird. Der stark an Bavas Arbeiten erinnernde Einsatz der Primärfarben wurde durch die Verwendung unterschiedlicher Filmmaterialien sowie deren Vermischung beim Kopierprozess erzielt. Und wenn der Betrachter sich schließlich an überbordende Farben und dem Realismus den Kampf ansagende Einstellungen gewöhnt hat, zeigt ihm Argento den Hauptschauplatz des Films.
Das tatsächlich in Freiburg stehende „Haus zum Walfisch“ wurde ihm römischen Studio detailgetreu nachgebaut, um es dabei gleich tief in den Schwarzwald versetzen zu können. Der eigenwillige rote Bau ragt dem Zuschauer aus dem Dunkel entgegen und weckt sofort Märchen-Assoziationen. Ob diese gut oder schlecht sind, ist dabei zweitrangig, wichtiger ist, dass so noch einmal unmissverständlich klargestellt wird, das dem Realismus spätestens hier der Zutritt verwehrt wird. Und tatsächlich warten hinter den Türen nur noch gänzlich eigenwillige und verdrehte Geschehnisse, denen mit Rationalität nicht mehr beizukommen ist.
Präsentiert wird das vor allem durch das bahnbrechende Setdesign, welches mit seinem übertrieben bunten und architektonisch verschachtelten Aufbau geradezu traumähnlich daherkommt. Es ist folglich kein Zufall, dass das Haus in der fiktiven Escherstraße steht, welche auf den niederländischen Pionier der unmöglichen Figuren, Maurits Cornelis Escher, referiert. Argento fängt diese Strukturen in seiner ersten Zusammenarbeit mit Kameramann Luciano Tovoli wunderbar ein und macht die Räume mit seinen gewohnt flexiblen und beweglichen Einstellungen regelrecht greifbar. Je nach Bedarf ist es in dem Gemäuer hell oder dunkel, weit oder eng, bedrohlich oder eventuell sogar mal ungetrübt. Meist herrscht aber eine latente Atmosphäre der Bedrohung vor, welche SUSPIRIA neben all seinen Eigenschaften als Kunst- und Experimentalfilm auch zu einem waschechten Horrorfilm macht.
Milius: Sie mögen doch Rotwein?
Suzy: Ja.
Milius: Na wunderbar. Er ist ein wohlschmeckendes und gesundes Mittel zur Bluterneuerung.
Denn mit zunehmender Spieldauer bietet sich ein immer tieferer Einblick in die Geheimnisse der Ballettakademie, welche letztlich in einer Fantasy-nahen Hexengeschichte kulminieren. Bis es soweit ist, stellt Argento allerdings zahlreiche Variationen expliziter Gewaltdarstellungen zur Schau, welche erneut dafür sorgen, dass die Eindrücke und Ängste der Protagonisten zu entsprechender Zeit auch eine überaus eindringliche visuelle Ausdeutung erfahren. Dabei erinnern mehrere Morde durchaus an seine Giallo-Vergangenheit, gesichtslose Killer, Messer als Mordwerkzeuge und ein überdeutliches Blutrot finden sich allerorten. Im Finale werden dann gar die Hexe respektive deren Opfer überdeutlich gezeigt, an Rücksicht ist hier nicht mehr zu denken.
Dass dieser Rausch aus Farben, Figuren, Räumen und Blut funktioniert, ist neben der absolut konsequenten Konzentration auf ebendiese Elemente aber auch der genialen akustischen Arbeit der Gruppe Goblin zu verdanken. Die Truppe rund um Claudio Simonetti hatte schon für ROSSO – DIE FARBE DES TODES komponiert und wurde für SUSPIRIA mit allen nur möglichen Freiheiten ausgestattet. Vier Monate lang arbeiteten die vier Musiker mit allerlei Instrumenten, Synthesizern und zahllosen ethnischen Einflüssen aus aller Welt an seinem Soundtrack, der sich perfekt mit den surrealen Bildern des Films verbindet. Mal laut, mal leise, mal wirr, mal gradlinig, manchmal schreiend, manchmal weinend reißt der Klang des Films den Zuschauer in seine ganz eigene Welt. Man ist fast geneigt mehr auf die Töne als auf die Worte zu hören, da diese einem mehr über eine Szene zu erzählen scheinen.
Verdegast: Sie ziehen ihre Lebenskraft aus dem Unheil, das sie anderen Menschen zufügen. Ihre Macht wächst mit dem menschlichen Leid.
Während dann viele der meist überaus skurrilen Figuren der Stimmung untergeordnet werden, steht die US-Amerikanerin Jessica Harper voll im Fokus. Die 28-Jährige, die im Film allerdings deutlich jünger wirkt, ist quasi des Zuschauers Eintrittskarte in die Welt des Films. Als solche muss sie zumindest einige Identifikationsmerkmale bieten; eine Aufgabe, von der alle anderen Rollen entbunden sind. Dementsprechend entrückt erscheinen Alida Valli als Tanzlehrerin Marie Tanner und US-Altstar Joan Bannett als Madame Blank. Auch Flavio Bucci, kurz zuvor noch in Aldo Lados NIGHT TRAIN – DER LETZTE ZUG IN DIE NACHT (1975) oder Eriprando Viscontis LA ORCA – GEFANGEN, GESCHÄNDET, ERNIERDIGT (1976) mit von der Partie, darf als blinder Musiker eine Fragen aufwerfende Darbietung abgeben, ebenso wie Miguel Bosé als eigentlich positive Figur Mark. Stefania Casini spielt als Sandra angenehm undurchsichtig und natürlich lässt sich auch Udo Kier, obwohl hier in durchaus ehrbarer Mission unterwegs, kaum in die Karten schauen.
Aufgrund all dieser Qualitäten entwickelte sich SUSPIRIA dann vor allem in Italien – wo sein Einspielergebnis sogar das von Spielbergs DER WEIßE HAI (1975) überflügelte – zu einem immensen Erfolg. Aber auch in anderen europäischen Ländern sowie in den USA stellte der Film Argentos großen Durchbruch dar. Bis heute wird der Streifen als sein bekanntestes und häufig auch bestes Werk rezipiert, wobei zumindest letztere Aussage naturgemäß einige Diskussionen hervorzurufen vermag; ohne Zweifel ist SUSPIRIA aber eines von Argentos ausfälligsten Werken. Zahlreiche Best-Of-Listen reservieren dem Film Plätz in den Top 10, zahllose Kritiker führen den Film in ihren Must-Sees. Nur drei Jahre später baute Dario Argento die Welt der drei Hexenmütter mit FEUERTANZ – HORROR INFERNAL (1980) weiter aus, bevor schließlich nach weiteren 27 Jahren mit THE MOTHER OF TEARS (2007) deren Abschluss folgenden sollte. Neben der TIER-TRILOGIE stellt die MÜTTER-TRILOGIE so eines der zentralen Elemente von Argentos Oeuvre dar.
Ein rauschhafter Film, der es wie kaum ein anderer versteht, seinen Zuschauer in eine andere Welt mit anderen Regeln zu entführen. Dabei verweigert sich Argento den gängigen Erzähltechniken und stellt seinen Zuschauer so auch vor die Aufgabe, sich auf dieses audiovisuelle Meisterwerk einzulassen; und wem das gelingt, dem steht ein ganz außergewöhnliches Filmerlebnis bevor.