BERLIN – DIE SINFONIE DER GROßSTADT

Berlin – Die Sinfonie der Großstadt
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt | Deutschland | 1927
IMDb, OFDb, Schnittberichte

Malerei mit Zeit lautet der Titel eines Aufsatzes, den der schon immer von Malerei und Musik angetane Weltkriegsheimkehrer Walther Ruttmann in den Jahren 1919/20 verfasste. Folgerichtig sind seine experimentellen Kurzfilme LICHTSPIEL OPUS 1 und 2 (1921) und RUTTMANN OPUS III und IV (1924/25) höchst abstrakte Werke, die Pinselstriche und andere künstlerische Ausdrucksweisen auf der Kinoleinwand lebendig werden lassen. Eine glückliche Fügung brachte Ruttmann mit dem seit seinem Drehbuch zu DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920) zu den etabliertesten Drehbuchautoren zählenden Carl Mayer zusammen, der die Idee anstieß, dass pulsierende Leben des Berlins der Weimarer Republik in dokumentarischer Weise darzustellen – das Ergebnis ist weltberühmt und zentraler Bestandteil des sinfonischen Films.

Der Film folgt dabei streng dem Tagesrhythmus. Fünf Akte schildern unterschiedliche Aspekte des Arbeitstages und des Großstadtlebens. Der Weg zur Arbeit, Schichtbeginn, Mittagspause oder Feierabend gliedern die Berufstätigkeit; Maschinen, Fabriken, Händler oder Gastronomie strukturieren die unterschiedlichen Bereiche der Stadt. Eine vollständige Auflistung des Gezeigten sei der empirischen Filmanalyse vorbehalten, bei den berühmten 1009 Einstellungen in 61 Minuten ist dessen Vielgestalt aber erahnbar. Ruttmann beweist mit seiner meist versteckten Kamera aber gleichsam ein Auge für die großen Leitlinien (Arbeiterströme, Verkehr, Vogelperspektiven auf das verschlafene Berlin) als auch für Details wie stolpernde Kinder, Werbesprüche oder Missgeschicke des Alltags. Es birgt tatsächlich auch bald 100 Jahre später eine ungebrochene Faszination, dem Alltag der Stadt und ihrer Menschen zu folgen – wahrscheinlich ist diese Faszination aufgrund des zeitlichen Abstands zum Gezeigten gar noch gewachsen; wer hätte schon gedacht, dass die Lufthansa bereits 1927 die Menschen per Shuttlebus zum Rollfeld kutschierte?

Der Anspruch, der Malerei eine zeitliche Komponente zu verliehen, findet dann vor allem in der Montage Verwirklichung. Ruttmann variiert innerhalb der Akte zwischen ruhigen Einstellungen und rasanten Schnittfolgen von unter einer Sekunden Dauer pro Einstellung. Das macht zwar Kameraschwenks meist unnötig respektive -möglich, sorgt aber trotzdem für höchst unterschiedliche Rhythmen. Während der Weg zur Arbeit noch in zehnsekündige Halbtotalen gefasste wird, übermannt einen die Schnittfolge in der stampfenden Fabrik fasst, bevor die Mittagspause diesen Sturm wieder elegant ausbremst. Das ständig Auf und Ab spiegelt den Puls der Stadt und macht ihre Gegensätze erfahrbar. Die zahlreichen unterschiedlichen orchestralen Begleitungen fangen das ebenfalls ein, die originale Komposition, welche wohl zahlreiche reale Stadtgeräusche enthielt ist wohl leider nicht erhalten.

Schon diese Montage macht deutlich, dass Ruttmann natürlich nicht nur dokumentiert. Er stellt dar, er verweist, er stellt gegenüber. Wie bei Charlie Chaplin Jahre später in MODERNE ZEITEN (1936) folgt auf die zur Fabrik strömenden Arbeiter eine Einstellung von getriebenen Pferden, der üppig speisenden Oberschicht werden Löwen oder hungernde Kinder gegenübergestellt. Vor dem Juweliergeschäft bückt sich ein Bettler und eine Achterbahnfahrt wir von Einstellungen einer suizidalen Frau unterbrochen. Ist schon letzte eine absolute Abkehr von der Dokumentation zugunsten der Inszenierung, gilt das auch für die Druckerei, deren rasende Zeitungen die Worte Krieg, Mord, Heirat, Börse sowie Geld, Geld, Geld verkünden. Hier beobachtet Ruttmann nicht mehr, sondern kommentiert und inszeniert die Stadt.

Das ist völlig legitim (und bei jedweder Form dokumentarischen Kinos nicht zu vermeiden), wirft aber im Kontext seines späteren Anschmiegens an das nationalsozialistische Kino (seine späteren (Kurz-)Filme heißen ARBEIT MACHT FREI (1933), BLUT UND BODEN (1933) oder DEUTSCHE PANZER (1940)) die Frage auf, welche (Stad-)Gesellschaft Ruttmann hier zeigt. Dabei ist vor allem anzumerken, dass er – trotz der erwähnten Szenen mit einzelnen Personen wie Kindern oder Bettlern – vor allem die anonyme Masse an Menschen zeigt. Diese Konzentration auf viele Menschen, auf die Bevölkerung als Ganze, auf das Volk als Ganzes wirkt in der Rückschau somit unheilschwanger. Und sie darf keinesfalls mit der positiv konnotierten Anonymität der Großstadt verwechselt werden, wie Bertolt Brecht sie unter anderem in seinem Gedicht Verwisch die Spuren beschrieb, in dem es unter anderem heißt:

„[…] Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg oder sonstwo
Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke, erkenne sie nicht
Zieh den Hut ins Gesicht, den sie dir schenkten
Zeige, oh, zeige dein Gesicht nicht
Sondern
Verwisch die Spuren! […]“

Diese Aufforderung, Anonymität zu wahren, setzt ein Individuum voraus, welches sie wahrt. Ruttmann zeigt dieses Individuum nicht, er zeigt nur die Masse. Und genau das ist, obschon die künstlerische Umsetzung über jeden Zweifel erhaben ist, bedenklich.


Antwort

  1. Das Bloggen der Anderen (08-03-21) | Filmforum Bremen

    […] gerade in Berlin sind: totalschaden von Splattertrash hat sich einige interessante Gedanken zu Walther Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ […]

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