Dying to Survive
Wo Bu Shi Yao Shen | China | 2018
IMDb, OFDb, Schnittberichte
Der abgehalfterte Liebestrankhändler Cheng Yong (Xu Sheng) droht das Sorgerecht für seinen Sohn zu verlieren, da er von seiner Ex finanziell unter Druck gesetzt wird. Da kommt der an Leukämie erkrankte Lv (Wang Chuanjun) in seine Bude gestolpert und bietet Cheng ein Geschäftsmodell an: Cheng soll eine kopierte Version eines überaus teuren Krebsmedikaments aus Indien ins Land schmuggeln und zusammen mit Lv an die zahlreichen Leukämie-Patienten verkaufen.
Das Spielfilmdebüt des chinesischen Regisseurs Wen Muyes war im Jahre 2018 der dritterfolgreichste Film in den chinesischen Kinos. Und selbst der Konsum des Streifens auf einem Flugzeugmonitor macht sehr schnell deutlich, warum das so ist: der Film lebt maßgeblich von seinen unglaublich sympathischen und greifbaren Charakteren. Es dauert nur zehn Minuten, dann hat Muyes die Hauptfigur Cheng derart facettenreich skizziert, dass eine Steigerung kaum noch möglich scheint: Der in relativer Armut lebende Cheng kümmert sich bis zur Selbstaufopferung um seinen Sohn und seinen Vater, schlägt allerdings unter Druck sofort unkontrolliert auf den Anwalt seiner Ex-Frau ein; vor den Aggressionen des Bruders seiner Frau hat er hingegen wieder Angst. Xu Sheng spielt das ganze wunderbar pointiert, blickt ebenso traurig wie trotzig drein und macht die Probleme und den Charakter der Figur so sehr nachvollziehbar. Aber auch Wang Chuanjuns totkranker Lv reißt die Sympathien gleich an sich. Irgendwo zwischen Fatalismus und Sarkasmus mäandernd funktioniert er als Sidekick erstaunlich gut und so bilden die beiden das Kernduo. Ergänzt wird die skurril-charmante Schmugglerbande dann durch die Tänzerin Sihui (Tan Zhuo), den tattrigen Prediger Liu (Yang Xinming) und einen gelbhaarigen Jungen vom Land (Zhang Yu).
Keine Frage, dass die Zuschauenden sogleich auf Seiten dieser Gesetzesbrecher stehen, die ja zudem noch ein gutes Werk verrichten. Wenn Cheng dann zum Ende hin beschließt, die Medikamente nicht nur ohne Gewinn, sondern sogar mit Verlust zu veräußern, ist ein langer Weg abgeschlossen, der mit bloßem Geldbedarf begann und der in edlem Altruismus endet. Bis dahin müssen aber sowohl Hauptfigur als auch Rezipienten sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, wo die Grenze zwischen Moral und Rechtmäßigkeit verläuft. Der angenehm ambivalente Cop Cao Bin zwingt Cheng mit seinen Ermittlungen ebenso zu dieser Auseinandersetzung wie der niederträchtige Professor Zhang, der ihn gar zu erpressen sucht. Im Angesicht all dieser Widrigkeiten trotzdem weiter Schmuggel zu betreiben sagt ebenfalls einiges über Cheng.
In einem Aspekt nimmt sich Muyes gegenüber den realen Ereignissen, die seinem Skript zugrunde liegen, dann etwas Freiheit: Während im realen Fall die Unschuld des Schmugglers festgestellt wurde, lässt Muyes Cheng in den Knast wandern – und ihn fünf Jahre später wieder herauskommen und feststellen, dass das von ihm geschmuggelte Medikament mittlerweile jedem legal zur Verfügung steht. Dieses fiktive Ende ist zum einen traurig, da Chengs Handeln richtig und sein Knastaufenthalt unnötig waren, andererseits zeichnet es gleichzeitig eine positive Zukunft, die so in der Realität nicht eingetreten ist.
Das Ende greift so wundervoll jenen Ton auf, den der Film über seine gesamte Spielzeit hinweg trifft. Mag der Anlass auch düster sein, verhalten sich die fünf Freunde überwiegend humorvoll und positiv. Muyes setzt viele treffsichere Gags und betrachtet auch das Leid stets mit ausgewogenem Blick. Der Film kann tieftraurig, er kann aber auch wunderschön. Exemplarisch sei das Abendessen der Fünf genannt, welches in Cheng Laden stattfindet. Draußen trommelt der Regen, drinnen brutzelt es auf dem Tisch. Bier und Schnaps kreisen, es wird gelacht und gestrahlt. Am Ende sitzt Cheng alleine und gebrochen da und zieht resignierend an seiner Zigarette. Und genauso sieht das Shanghai aus, das Muyes zeichnet: hell und dunkel, fröhlich und düster. Genauso ambivalent wie Chengs Leben und die Entscheidungen, die er zu treffen hat.