Das Phantom der Oper
The Phantom of the Opera | USA | 1925
IMDb, OFDb, Schnittberichte
1. Mit der GLÖCKNER VON NOTRE DAME (1923) vollführte Produzent Carl Laemmles Universals Pictures einen recht erfolgreichen Schritt in Richtung aufreibender, gruseliger Stoffe. Folgerichtig sicherte sich Laemmle zwei Jahre später die Rechte an einem weiteren französischen Schauerklassiker, der ebenfalls die tragische Geschichte eines im Inneren guten Wesens skizziert: Gaston Leroux‘ Das Phantom der Oper. Nach der – heute verschollenen – deutschen Erstinterpretation von Ernst Matray sollte die zweite Spielfilm- und einzig erhaltene Stummfilmfassung die bis heute angesehenste werden – was bei einem runden Dutzend an Verfilmungen aus verschiedenen Dekaden durchaus etwas heißen möchte.
2. Ein Grund für die Beliebtheit dieser Fassung des neuseeländischen Regisseurs Rupert Julian ist sicherlich die überbordende Ausstattung des Films. Die (fantastisch nachgebaute) Opéra Garnier setzt Maßstäbe, die Kellergewölbe, die Eriks Reich beherbergen, machen trotz überschaubarer Anzahl an einzelnen Sets sofort den Eindruck, dass sie sich endlos unter Paris umherziehen, einem undurchdringlichen Irrgarten gleich. Massenszenen betonen die Bedeutung der Geschehnisse und einfallsreiche Tricks wie die Flutung der geheimen Munitionskammer sorgen für Staunen. Am meisten Atmosphäre erzeugt aber der gleich zu Beginn enthüllte Backstagebereich der Oper; Julian (der das Projekt nach einem Streit mit Hauptdarsteller Lon Chaney vorzeitig verließ) entführt seine Zuschauenden in die verwinkelte, etagenreiche Welt der Bühnenhelfer, wo Zahnräder, Schweiß und harte Arbeit die Show überhaupt erst ermöglichen. Nach wenigen dieser Einstellungen sollte jedem klar sein, dass in einem derart undurchschaubaren Gebäude wirklich alles passieren kann.
3. Die zentrale Szene des Films ist die Demaskierung Eriks, da sie seinen charakterlichen Niedergang einläutet. Bis dahin ist er ein Außenseiter, der die Oper besucht, ein wenig (nicht gebotenen) Einfluss auf das Haus nimmt und sich in Christine Daaé verliebt. Ihre Entführung ist Unrecht, geschieht aber nicht mit Gewalt. In seinem Versteck ist sein musikalisches Verständnis dann trotz aller Unsicherheit Christines beinahe dazu angetan, sie von seinen Gefühlen zu überzeugen – bis sie ihm die Maske abnimmt. Frontal gefilmt erschrecken die Zuschauenden gemeinsam mit Christine über Eriks entstelltes Gesicht; während Erik gleichermaßen erschrickt. Man sieht ihm dank Lon Chaneys differenziertem Spiel sofort an, dass er nun weiß, dass keine Beziehung mit Christine mehr möglich ist. Sein Verhalten wandelt sich und aus dem leidend Verliebten wird ein manischer Herrschsüchtiger, der nicht mehr mit Gefühl, sondern mit psychischer Gewalt an sein Ziel zu kommen sucht. Die Einwirkung von außen macht den äußerlich entstellten auch innerlich hässlich. Doch …
4. … am Ende bleibt trotzdem Mitgefühl für Erik. Ja, er hat sich falsch verhalten, ja, er hat gemordet und ja, er müsste für sein Handeln geradestehen. Aber nicht so. Der immer näherkommende Mob verspricht schon – das Finale von James Whales FRANKENSTEIN (1931) vorwegnehmend – in den Katakomben nichts Gutes. Bei der Hatz durch die Straßen von Paris steigert sich dann das Unwohlsein, welches sich schließlich am Ufer der Seine brutal Bahn bricht. Eriks kleiner Spaß mit der hohlen Hand kann die äußerste Düsterkeit der Szenerie nicht mehr brechen. Die Wut eines enthemmten Mobs mag vor 95 Jahren wie zornige Gerechtigkeit gewirkt haben, heute ist sie schlicht schockierend. Die passendsten Worte dazu fand wohl Thomas Koebner in Reclams 2004 erschienen Band „Filmgenre Horrorfilm“: „Es mag die Erfahrung des 20. Jahrhunderts sein, dass man solchen Szenen vom Aufstand der Massen mit unüberwindlicher Skepsis gegenübersteht.“
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