Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache
Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache | Deutschland | 1971
IMDb, OFDb, Schnittberichte
Während der brave Taxifahrer Heinz Jensen (Heinz Reincke) betrunkene Prostituierte brav durch die Nächte von St. Pauli kutschiert, überfällt sein Bruder Willy (Horst Frank) Banken und bricht aus dem Knast aus. Das Zusammentreffen der beiden läuft dementsprechend undiplomatisch ab, auch weil Heinz mittlerweile mit Willys Frau Vera (Christiane Krüger) zusammenlebt. Und dass Kommissar Knudsen (Klaus Schwarzkopf) Willy bereits dicht auf den Fersen ist, macht die Situation auch nicht leichter.
Der Österreicher Rolf Olsen hatte mit WENN ES NACHT WIRD AUF DER REEPERBAHN (1967) den Reigen der St. Pauli-Filme ausgelöst, der für die nächsten sieben oder acht Jahre eines der Epizentren der bundesdeutschen Exploitationkunst darstellen sollte. Olsen selbst lieferte dabei die meisten der ähnlichen gelagerten Werke ab, bevor er sich mit BLUTIGER FREITAG (1972) in besonderer Weise um das deutsche Kino verdient machte. Für einen etwas ungewöhnlicheren Beitrag zu diesem Genre sorgte 1971 Wolfgang Staudte, der sicherlich zu den renommiertesten deutschen Regisseuren der Nachkriegszeit zu zählen ist. Dementsprechend ist das Attribut ungewöhnlich hier auch im positivsten Sinne aufzufassen.
Typ: Herr Geheimrat, kommen Sie doch: Damenwahl auf der Herrentoilette!
Das Drehbuch aus der Feder von Fred Denger, der auch an Géza von Radványis ONKEL TOMS HÜTTE (1965) oder Harald Reinls DER UNHEIMLICHE MÖNCH (1965) beteiligt war, und George Hurdalek konzentriert sich nämlich vor allem auf seine beiden Hauptfiguren und den deutlichen Gegensatz, in welchem sich diese gegenüberstehen. Auf der einen Seite gibt es mit dem deutschen Genre-Profi Horst Frank den prototypischen Milieu-Angehörigen Willy, der sich bei beinahe allem, was er tut, außerhalb des Gesetzes bewegt, und auf der anderen Seite den gebürtigen Kieler Heinz Reincke, der als Heinz ein schicksalsergebenes, dem Gesetz treues Leben führt. Die Gemeinsamkeit der beiden: sie leben auf St. Pauli und haben die gleichen Eltern. Die Gegensätze der beiden: alles andere. Vom ersten Zusammentreffen an konkurrieren diese beiden Lebensentwürfe, wobei Willy aufgrund seiner Rücksichtslosigkeit stets der dominante Teil ist (und laut eigener Auskunft auch schon immer war).
Staudte belässt es allerdings nicht dabei, diesen Kontrast einmal zu etablieren, vielmehr baut er seinen gesamten Film auf diesem Kampf der Brüder auf. Mehrfach erreicht Heinz kurz nach einer Schandtat Willy den Tatort mit besten Absichten, nur um dann von Kommissar Knudsen (in dessen Rolle Klaus Schwarzkopf schon mal Erfahrung für seine zahlreichen folgenden TATORT-Einsätze sammelte) aufgegriffen und bedrängt zu werden. Heinz leidet so sogar unter Willy, auch wenn der gar nicht anwesend ist. Gleichzeitig darf auch der eiskalte Willy Emotionen zeigen; und auch, wenn es nur die verlorene Kohle ist, die ihm die Tränen in die Augen zu treiben vermag, so ermöglicht das Horst Frank doch, sein Können auch auf dieser Ebene zu präsentieren. Christiane Krügers Vera steht als Willys Frau und Heinz‘ Geliebte geschickt positioniert zwischen den Figuren und verstärkt den Konflikt zusätzlich.
Kommissar Knudsen: Jensen, Sie müssen aufhören zu saufen und wieder Ihr Taxi fahren!
Neben dieser zentralen und spannenden Figurenkonstellation bedient Staudte aber auch die Erwartungen der Zuschauer an einen Film, der die Begriffe St. Pauli und Davidswache im Namen trägt. Es gibt gleich in der Exposition nackte Tatsachen zu sehen, Bordsteinschwalben bevölkern nahezu jede Straßenszene und auch einige Tanzeinlagen gehören zu Repertoire des Films. Peter Schirmanns Score unterlegt das genretypisch swingend, nimmt sich gerade bei den zahlreichen Verfolgungsjagden und Versteckspielen aber angenehm zurück und unterstützt die geschickt aufgebaute Spannung mittels reduzierter, aber pointierter Bassläufe. An der Kamera saß der Italiener Giorgio Tonti, der sich weniger spekulativen Aufnahmen als vielmehr der engen Begleitung der beiden Protagonisten widmet – diese gibt er erst am Ende auf, wenn er das konsequente und durchdachte Finale mit einem schönen Kameraflug einfängt.
Neben einigen vordergründigen Unterhaltungsmotiven ist es vor allem die intensive und facettenreiche Auseinandersetzung der Brüder Willy und Heinz, die Wolfgang Staudtes Beitrag zum St. Pauli-Film zu einem äußerst sehenswerten macht.
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