ESCALATION

Escalation
Escalation | Italien | 1968
IMDb, OFDb, Schnittberichte

Augusto Lambertinghi (Gabriele Ferzetti) ist der Verzweiflung nahe: sein Sohn Luca (Lino Capolicchio) zeigt nicht nur keinerlei Interessen an einer Übernahme der sich seit Generationen im Besitz der Familie befindlichen Fabrikanlage, nein, er hängt in Gedanken auch ausschließlich dem fernen Indien und dessen geistig-spirituellen Ideen nach. In der Hoffnung, Luca doch noch zu bekehren, engagiert Augusto die Psychologin Carla Maria Mannini (Claudine Auger), die jedoch ganz eigene Ziele mit der Behandlung des Jünglings verfolgt.

Schon während seines Studiums am Centro Sperimentale di Cinematografia zeigte sich Roberto Faenzas Anspruch, seine links-intellektuelle Haltung auch in seinem filmischen Schaffen zu Wort kommen zu lassen. Diverse Drehbücher und Kurzfilme konnten den Produzenten Giuseppe Zaccariello, der kurz zuvor Elio Petris Italowestern ZWEI SÄRGE AUF BESTELLUNG (1967) produziert hatte und der mit Piero Schivazappas THE FRIGHTENED WOMAN (1969) und Marios Bavas Proto-Slasher IM BLUTRAUSCH DES SATANS (1971) in der Folge noch weitere Erfolge anleiern sollte, dann von Faenzas Fähigkeiten überzeugen. Selbstredend ließ es sich dieser nicht nehmen, dass Drehbuch zu seinem Spielfilmdebüt auch selber zu schreiben und dabei zahlreichen seiner politischen Ansichten Ausdruck zu geben.
So ist schon nach wenigen Minuten klargestellt, dass hier Papa Kapitalismus auf Sohnemann Hippie/Freak/Freigeist trifft. Gabriele Ferzetti, der seine bereits seit Jahren erfolgreiche Karriere ein Jahr später mit seinem Mitwirken in SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD (1969) und IM GEHEIMDIENST IHRER MAJESTÄT (1969) krönen sollte, gibt als Augusto den Prototypen des norditalienischen Industriellen. Der Erfolg seines Familienunternehmens steht über allen, er macht mehrfach deutlich, dass er in seinem Sohn ausschließlich den Nachfolger seinerselbst sieht. Alles andere ist ihm unwichtig, alles andere ist ihm unverständlich. Das geht gar soweit, dass er die Ansichten seines Zöglings als Geistkrankheit interpretiert und diesen in ein Sanatorium einliefert. Ferzetti spielt diese Figur wunderbar distanziert und kühl, das (eiskalte) Berechnen ist nicht nur Augustos Beruf, es ist sein ganzes Dasein.

Luca: Für mich ist nichts so dekadent wie eure moderne Welt.

Konträr dazu richtet Söhnchen Luca sich nach anderen Werten und findet des Sinn des Lebens im Buddhismus und dem Sehnsuchtsort Indien. Er führt das Leben eines Klischee-Hippies und wird dabei von seiner Sitar und einem Ei mit Buddha-Darstellung begleitet. Ihm ist die kapitalistische Welt seines Vaters fern, er rebelliert und versucht aus dem Angebot seines Vaters, ihn nach einem Versuch in der Firma nach Indien zu schicken, auszunutzen. Der angehende Mime Lino Capolicchio spielt den Luca dabei in einer wundervollen Mischung aus Slapstick und Einfühlungsvermögen. Man ist sich als Zuschauer nie ganz sicher, ob der Junge weiß, was er da gerade tut, oder ob er der realen Welt eventuell doch schon etwas entglitten ist. Noch viel beeindruckender ist aber das Wandel, den die Figur Luca dann durchmacht und die Capolicchio fantastisch wiederzugeben versteht.

Denn das Auftreten von Claudine Auger, drei Jahre zuvor noch Bondgirl in FEUERBALL (1965), als Psychologin Carla Maria löst in Luca einen immensen Wandel aus. Zunächst von philosophischem Interesse wird aus der Beziehung der beiden schnell eine Affäre, mithilfe derer Carla Einfluss auf die Firma zu erlangen sucht. Sobald Luca dann erfährt, dass Carla nur ein Spiel mit ihm spielt, greift er zum äußerten Mittel, um sich der Gefahr für das Familienunternehmen zu erwehren. Zu diesem Zeitpunkt ist er schon voll und ganz im Hamsterrad des Kapitalismus gefangen, er scheut selbst vor einem Mord nicht zurück, um seinen neuen, monetären Besitz zu wahren – die emotionale Verletzung durch Carla ist nur eine Stufe auf dieser Leiter zum Bösen. Auf Umwegen erfüllt sich so letztlich der finstere Plan des Herrn Papa, der Sohnemann endet als moralbefreiter Unternehmer.

Carla Maria: Ihr Sohn interessiert mich sehr, er könnte ein ergiebiges Objekt werden.

Dargestellt wird das in einer fantastisch anzusehen und -hörenden Schlusssequenz, die die Protagonisten bei der Beerdigung Carlas in einem Eissarg zeigt. Es spielt eine Jazzband und die Familie Lambertinghi bewegt sich über eine unwirklich anmutende Brachlandschaft auf die stinkende Fabrik zu. Aber auch vor diesem denkwürdigen Schlussakkord gibt es einiges an optischer Finesse zu begutachten. Kameramann Luigi Kuveiller fotografiert vor allem zahlreiche einfallsreich ausgestattete Innenräume. Knallbunte Popart steht dabei der eleganten Kühle der firmeneigenen Büros gegenüber. Cutter Ruggero Mastroianni schneidet dagegen einige farbarme Außenaufnahmen und kontrastiert diese wieder mit dem strahlenden Türkisblau des Strandes von Rosignano Solvay.
Ennio Morricone (der auch in den nächsten Jahren eng mit Faenza zusammenarbeiten sollte) liefert einen teils mit Klassik teils mit wilden Experimental-Sounds arbeitenden Soundtrack, der das Gebotene stets trefflich begleitet. Und das ist nicht immer einfach, denn der Film erlaubt es sich bezüglich Struktur und Ablauf einige ungewöhnliche Freiheiten. Er gibt seiner Figuren stets den Vorzug vor der Handlung und erlaubt sich so manche inhaltliche redundante Passage – nur um seine Figuren noch etwas feiner zu zeichnen. Dass diese Zeichnung dann vor allem im Falle Lucas ständig zwischen Ernst und Groteske schwankt, macht einen großen Teil des Reizes des Films aus. Roberto Faenza zwingt seine Zuschauer quasi dazu, den moralischen und menschlichen Niedergang des jungen Luca mit einem lachenden und einem staunenden Auge zu verfolgen. Ein im besten Sinne des Worts irritierendes Seherlebnis!

Nach DAS GEHEIMNIS DER 14 GEISTERREITER (1959) und DER PERSER UND DIE SCHWEDIN (1961) unterstreicht das 2015 gegründete Label Forgotten Film Entertainment mit ESCALATION seine Ambitionen, Filmfreunden seltene, bis dahin kaum zu erhaltende Film wieder zugänglich zu machen. ESCALATION stellt dabei die erste Zusammenarbeit mit der Community von Italo-Cinema dar, die Italo-Cinema Collection Nr. 1.
Das Bild wurde in 2K neu abgetastet und restauriert und der Film kann sich in dieser Fassung wahrlich sehen lassen. Die Blu-ray weist eine ordentliche Schärfe aus, Filter kommen nur sehr zurückhaltend zum Einsatz, sodass das Filmkorn erhalten bleibt. Einige kleinere Kratzer sind erhalten geblieben, allerdings vermag sowas ja bekanntermaßen durchaus das Flair eines alten Films zu erhöhen. Eine gute Entscheidung war es, dem grundsätzlich etwas farb-entsättigten Look des Films Raum zu lassen und die Farben nicht künstlich hochzudrehen. Der bunte Popart-Ausstattung kommt auch so bestens zur Geltung. Neben der deutschen Tonspur (Mono 1.0) ist auch eine italienische Spur gleicher Qualität an Bord, die mithin etwas satter klingt.
Ansonsten finden sich neben den 93 Minuten an Hauptfilm noch zwei je halbstündige Interviews auf der Scheibe, in denen Roberto Faenza und Lino Capolicchio sowohl auf die Anfänge ihrer Karrieren als auch auf die Entstehungsgeschichte von ESCALATION eingehen. Vor allem Faenza wirkt dabei überaus sympathisch und durchdacht und gibt einige nette Einblicke in die italienische Filmwirtschaft der ausgehenden 60er Jahre. Beim Audiokommentar liefern die Herrschaften Leonhard Elias Lemke und Robert Wagner eine sehr sympathische Arbeit ab, machen sie doch gar keinen Hehl daraus, eben eher Laien auf diesem Gebiet zu sein. Ihrer Fachkunde tut das indes keinen Abbruch und es ist doch erstaunlich erfrischend, mal andere Menschen zu hören als das „übliche Dutzend“. Der deutsche Vorspann und eine umfangreiche Bildergalerie runden die Extras schön ab und obendrauf gibt es noch ein Mini-Featurette über die irritierende Entstehungsgeschichte des weißen Strandes von Rosignano Solvay.
In dem gewohnt wertigen Pappschuber findet sich des Weiteren noch ein Booklet, welches das Engagement und die Liebe der Ersteller greifbar werden lässt. Auf 56 Seiten finden sich fünf Essays, die neben einer Auseinandersetzung mit dem Film selbst (Thomas Hübner) auch eine Beschreibung des Psychedelic Movement (Endre Udvari), eine Analyse von Morricones Filmmusik (Sebastian Schwittay), eine Ode an Frau Auger (Gerald Kuklinski) sowie gute 20 Seiten zum Werk von Regisseur Roberto Faenza (Richie Pistilli) enthalten.

Roberto Faenza nutzt sein Spielfilmdebüt, um seine antikapitalistische Haltung deutlich und farbenfroh auszudrücken. Er verweigert sich dabei weitgehend klassischen Strukturen und liefert so einen Film ab, der den Wandel der Hauptfigur vom Hippie zum Unternehmer – auch dank der großartigen Mimen – erstaunlich eindringlich darstellt; nicht ohne diesen jedoch an allen Ecken und Enden mittels grotesker Zwischentöne zu konterkarieren.

3 Antworten zu “ESCALATION

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