Milano Kaliber 9
Milano calibro 9 | Italien | 1971
IMDb, OFDb, Schnittberichte
Der Kriminelle Ugo Piazza (Gastone Moschin) hat nach verbüßter Strafe gerade den ersten Fuß vor die Türen der Justizvollzugsanstalt von Mailand gesetzt, als ihn auch schon der Gangster Rocco (Mario Adorf) in seine Karre zieht. Dieser soll ihn zu „dem Amerikaner“ (Lionel Stander) bringen, dem Boss der mailänder Unterwelt, der vermutet, dass Ugo ihm 300.000 US-Dollar gestohlen hat. In seiner Not wendet sich der stoische Ugo an seinen alten Kumpel Chino (Philippe Leroy), den Sohn des mittlerweile abgesetzten Paten Don Vincenzo (Ivo Garrani).
Seit Anfang der 60er Jahr war Fernando di Leo vor allem als Schreiberling für diverse Italowestern tätig. Dabei schrieb er unter anderem an Sergio Leones Meisterwerken FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR (1964) und FÜR EIN PAAR DOLLAR MEHR (1965) am Drehbuch mit – und führte bei letzterem sogar in manchen Einstellungen das zweite Drehteam an – bevor er dann ab Ende der 60er Jahre erste Schritte auf dem Gebiet der Regie vollführte. Es folgten das schmissige Jugend-Drama NOTE 7 – DIE JUNGEN DER GEWALT (1969) und der Kinski-Horror DAS SCHLOSS DER BLAUEN VÖGEL (1971), bevor sich di Leo dann dem Mafia- respektive Polizeifilm zuwenden sollte.
Bzgl. des Drehbuchs verließ sich di Leo dabei erneut auf das Werk Giorgio Scerbanencos, der bereits die Romanvorlagen zu NOTE 7 – DIE JUNGEN DER GEWALT oder zu Duccio Tessaris Kriminalfilm DAS GRAUEN KAM AUS DEM NEBEL (1970) geliefert hatte. Zahlreiche weitere italienische Polizieschi und andere Kriminalstreifen hatten sich bei dem Italiener ukrainischer Abstammung Inspiration geholt und auch di Leo sollte noch mal vom Können dieses Autors profitieren. Trotzdem wäre es arg fälschlich, sämtliche Lorbeeren dem Schreiberling zu überantworten, denn di Leo schnappte sich das Grundkonzept des 1969 verstorbenen Scerbanenco und bastelte daraus ein Drehbuch, das an Stringenz und Tempo wahrlich seinesgleichen im italienischen Kino dieser Tage sucht.
Ein moderner Gangster-Thriller – knochenhart und höllisch heiß! (Deutscher Werberatschlag)
Die Story entfaltete sich nach der legendären Exposition derart schnell, dass der Zuschauer schon nach 20 Minuten völlig im Bilde ist. Di Leo hält sich nicht mit Kleinig- und Hinterlistigkeiten auf, die Karten liegen quasi von Anfang an auf dem Tisch. Rocco wird schon in der Eröffnung fast vollständig gezeichnet, Piazza, der Amerikaner, Chino, Don Vincenzo und der Kommissar folgen innerhalb weniger Einstellungen. Der Film macht keinen Hehl aus seinen Absichten, auch die Wendungen und Twists können nicht wirklich überraschen, viel mehr ergeht sich der Streifen in der Darstellung seiner Charaktere und deren Wirken aufeinander.
Und dafür hat sich di Leo eine Besetzung angelacht, die maßgeblich für die herausragende Qualität dieses Films verantwortlich ist. Die Deutschamerikanerin Barbara Bouchet, die gerade noch in der JAMES BOND-Parodie CASINO ROYALE (1967) als Moneypennys Tochter zu sehen war und die die gesamten 70er Jahre im italienischen Genrekino verbringen sollte, darf als verführerische Nachtclub-Akrobatin Nelly Borden auftrumpfen, der zudem auch eine maßgeblich Rolle bei der Charakterisierung Piazzas zukommt und die spätestens im Finale alle vordergründigen Hüllen abwirft. Der US-Amerikaner Frank Wollf, der in der 60er Jahren zahlreiche Italowestern bereichert und jüngst den Grr in Pasquale Festa Campaniles ALS DIE FRAUEN NOCH SCHWÄNZE HATTEN (1970) gegeben hatte, gibt den erzreaktionären Kommissar und wird dabei von Italowestern-Ikone Luigi Pistilli flankiert, der als Bulle Mercuri sogar mal einen linksgerichteten Bullen zeichnen darf. Ivo Garrani als Alt-Pate Don Vincenzo und das US-amerikanische Schauspiel-Urgestein Lionel Stander als der Amerikaner geben tolle Unterwelt-Größen ab, die sich zwischenzeitlich in tollen Ausführungen über den Zustand der mailänder Gangsterwelt ergehen, während Philippe Leroy als Piazzas einziger Gefährte Chino überzeugt.
Luca: Du solltest mehr Milchreis essen – du hast keinen Saft!
Und trotz dieser geballten schauspielerischen Kompetenz, stehen all diese Damen und Herren im Schatten von ihren Kollegen Adorf und Moschin. Ersterer, kurz zuvor in Dario Argentos DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN HANDSCHUHE (1970) oder Aldo Lados MALASTRANA (1971) mit von der Partie gewesen, knallt als Choleriker Rocco eine derart brillant Leistung auf die Leinwand, das es eine wahre Freude ist. Von der ersten Minute an brennt Mario ein Feuerwerk ab und ergeht sich in immer ekstatischeren Ausbrüchen, die am Ende durch den Umstand, dass er plötzlich in tiefen Respekt und eine schwere Lethargie verfällt, nur noch beeindruckender werden. Gerade diese Wendung verleiht dieser anfangs ständig polternden und brüllenden Rolle die nötige Tiefe. Gerade die Beziehung zu Ugo Piazza, die wachsende Anerkennung für den Rivalen, macht Adorfs Rocco so wundervoll.
Man kann es fast schon als großes Unglück für Mario Adorf bezeichnen, dass er mit einer derart selten wieder erreichten Paradeleistung nicht die schauspielerische Krone dieses Films auf seinem Haupt platzieren darf; denn Gastone Moschin nimmt als Ugo Piazza einfach allen Raum für sich ein. Stoisch und ruhig, schicksalsergeben und demütig sucht sich Piazza seinen Weg durch die Unterwelt, nur um dann doch für mehrere Enthüllungen verantwortlich zu sein. Mit kühlem Blick, der aber insgeheim ständig die Situation mitverfolgt, versucht sich Piazza ein neues Leben mit Nelly zu schaffen, was letztlich natürlich zum Scheitern verurteilt ist – und nebenbei für ein perfekt inszeniertes und beinhartes Finale sorgt.
Chino: Wenn ein Freund mich um 100.000 Lira bittet, dann kriegt er sie. Und wenn jemand ungebeten in mein Haus kommt, dann kriegt er auch was.
Wobei wir bei di Leos Inszenierung wären. Schon die erwähnt brachiale Exposition reißt den Zuschauer förmlich in den Film hinein und auch danach lassen di Leo und Kameramann Franco Villa dem Zuschauer nie zu Atem kommen. Der Film ist ein Rausch, der sich nie lange mit Handlungs-Schnickschnack und Drumherum aufhält, sondern sich stattdessen auf seine Figuren und deren Wirken verlässt. Im Verlaufe der Geschehnisse nehmen Verfolgungsjagden und Schießereien zu, aber stets bleibt die punktgenaue Inszenierung über jeden Zweifel erhaben. Wundervolle Kameraeinstellungen und eine abwechslungsreiche Fotografie machen den Film zu einem optischen Hochgenuss, der es einem stellenweise schwer macht, sich nicht im Bilderrausch zu verlieren.
Dass dann noch Luis Bacalov, der sechs Jahre zuvor den legendären Soundtrack zu Sergio Corbuccis DJANGO (1966) geschrieben hatte, dem Film einen genialen Score schenkt, der das Geschehen noch weiter antreibt, ist das i-Tüpfelchen auf einem Meisterwerk. MILANO KALIBER 9 ist ein Gangsterfilm (bzw. Kriminalfilm oder sogar Früh-Poliziesco) wie er im Buche steht: spannend, stringent, stimmungsvoll. Vor allem aber ist es die perfekte Besetzung, die den Film zu einem der faszinierendsten seiner Art macht.
Ein Knaller! Fernando di Leos Einstieg in die harte Welt der Filmkriminalität ist mit seiner mitreißenden Geschichte und seiner genialen Inszenierung einer der unumwundenen Klassiker des italienischen Gangsterfilms. Seine wahre Stärke findet sich aber in den absolut wundervollen Darbietungen der Herren Moschin und Adorf (ohne dabei die Bemühungen der übrigen Mimen zu schmälern), die dem Film eben jene Augenblicke verschaffen, die die wirklich großen Streifen von den guten unterscheiden.
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